Wo Bernhard »Bernie« Gunthers Weg endet, wissen wir seit »Trojanische Pferde« aus dem vergangenen Jahr. Der frühere Polizist lebt 1957 vereinsamt und inkognito in München und sucht nach seinem Platz »in der neuen Weltordnung« nach dem Zweiten Weltkrieg, nach einem »Platz, wo ein rastloser Geist wie der meine sich wieder lebendig und real fühlen und den Traum von wahrer Wiedergutmachung träumen konnte«. Ob Gunther diesen Ort jemals finden wird, bleibt für immer unbeantwortet – sein Erfinder, der schottische Schriftsteller Philip Kerr, starb im März 2018 mit 62 Jahren an Blasenkrebs.
Er hinterlässt ein umfangreiches Werk, dazu gehören eine Reihe von Thrillern, eine Trilogie von Fußball-Krimis, etliche Kinderbücher. Doch sein Hauptwerk sind die Bernie-Gunther-Romane, mit dem jetzt auf Deutsch erschienenen »Metropolis« insgesamt 14 Bücher, die, nicht immer chronologisch, das Schicksal des Polizisten und späteren – unfreiwilligen – SS- und SD-Mitarbeiters von 1928 bis 1957 nachverfolgen.
Mord am Obersalzberg
Begonnen hatte Kerr die Reihe 1989, er war damals wohl der erste Schriftsteller, der eine klassische Noir-Geschichte im schnoddrigen Stil eines Raymond Chandler vor der Kulisse der Nazi-Diktatur erzählte. Er wurde zum Wegbereiter für unzählige meist deutlich weniger talentierte Autoren, die, oft mit größerem kommerziellem Erfolg, auf seinen Spuren schrieben. Vielleicht hätte es ohne Kerr die Bestseller eines Volker Kutscher und den darauf basierenden TV-Erfolg »Babylon Berlin« niemals gegeben – ob es eine Anspielung auf die Serie ist, dass »Metropolis« mit einer Analogie zwischen dem biblischen Babylon und Berlin beginnt, scheint angesichts seiner Detailverliebtheit und seines Sinns für Anspielungen höchst wahrscheinlich.
Nach drei Romanen war 1991 erst einmal Schluss, aber 15 Jahre später kehrte Kerr zurück zu Gunther. Und erst dann, mit Romanen wie »Die Adlon Verschwörung« und »Mission Walhalla«, erreichte die Reihe eine erzählerische Wucht und intellektuelle Tiefe, die im Thriller-Genre eine Seltenheit ist. Wie John le Carré – Kerrs großes Vorbild – seinen George Smiley, so brauchte Kerr Bernie Gunther auch dazu, eine Reihe moralischer Fragen zu stellen: Wo beginnt Schuld? Macht man sich bereits schuldig, wenn man keinen Widerstand gegen ein offensichtliches Unrechtsregime leistet? Wie lebt man mit der – realen oder empfundenen – Schuld? Und: Kann man auf Vergebung hoffen?
Auf der Suche nach Antworten schickt Kerr seinen Helden, den »unermüdlichen Überlebenskünstler«, wie ihn Ian Rankin im Vorwort zu »Metropolis« nennt, im Laufe der Reihe auf eine Reise voller Prüfungen, die ihn von Berlin, damals noch als Polizist am Alex ermittelnd, bis auf die Schlachtfelder der Ostfront führt. Zwischenstationen sind unter anderem der Obersalzberg, wo er kurz vor Hitlers 50. Geburtstag einen Mord aufklären soll, und Prag, wo er in das Attentat auf SS-Obergruppenführer Heydrich verwickelt wird. Auch nach dem Ende des Kriegs wird er sich immer wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert sehen. Ob in Havanna, Buenos Aires, Berlin oder München: überall alte Nazis.
Mit »Metropolis« erzählt Kerr sozusagen die origin story der Reihe. Es ist der Sommer 1928, fünf Jahre vor der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten, und der Name Hitler öffnet bereits Türen. Zumindest die der berüchtigten Kneipe Sing-Sing, wo der Nachname des späteren Diktators als Losungswort dient. Der Polizist Bernhard Gunther, gerade erst von der Sitte zur Mordkommission versetzt, ermittelt hier in einer Serie von Prostituiertenmorden, der Killer trägt den Spitznamen »Winnetou«, weil er seine Opfer skalpiert. Das Sing-Sing gab es wirklich, in der Chausseestraße. Man trank hier im makabren Ambiente eines Zuchthauses, auch der elektrische Stuhl aus dem gleichnamigen US-Gefängnis war als Attrappe vorhanden. Das Losungswort »Hitler« dürfte Kerrs Einfall sein, die Nazis waren der Kneipe nicht allzu zugetan, sie passte nicht ins Weltbild: Noch 1933 ließen die neuen Machthaber sie schließen.
Die wohl schönste Pointe
Die Krimihandlung – es wird noch eine zweite Mordserie geben, und Gunther ist der Einzige, der die beiden zusammendenkt – spult Kerr sehr routiniert ab, für hinreichend Spannung ist gesorgt. Den eigentlichen Reiz bei der Lektüre aber bietet die meisterhafte Verschränkung von Fakten und Fiktion, eine Kunst, die Kerr im Laufe der Jahre immer weiter perfektionierte. Auch in »Metropolis«, einer Hymne auf Berlin, diesen, so Gunther, gleichzeitig »grotesken und hässlichen« wie »wunderbaren und inspirierenden« Ort, lässt er den Polizisten auf eine Vielzahl historischer Figuren treffen.
So gibt es eine pointensatte Diskussion mit dem Maler George Grosz, dem Kerr die schöne Beobachtung »Die Geschichte lehrt uns, dass keiner je was von Hegel gelernt hat. Am allerwenigsten über Kunst oder Geschichte« in den Mund legt. Kurz wird Grosz, zu dessen düsteren Motiven auch tote Frauen gehörten (in der Hamburger Kunsthalle etwa hängt heute sein gruselbuntes Bild »John, der Frauenmörder«), zum Verdächtigen im »Winnetou«-Fall, ebenso wie Otto Dix.
Auch Thea von Harbou lernt Gunther kennen, die zusammen mit ihrem Mann Fritz Lang die Drehbücher zu Filmklassikern wie »Dr. Mabuse, der Spieler« und »Metropolis« geschrieben hat. Jetzt arbeiten sie und Lang an einem Film über, so Lang, »die Lustmordhauptstadt der westlichen Welt«. Gunther wird sie dabei beraten und derjenige sein, der sie davon überzeugt, statt eines Frauen- einen Kindermörder in den Mittelpunkt zu stellen – und wäre somit für einen der größten Klassiker des deutschen Kinos mitverantwortlich: Fritz Langs »M«.
Die wohl schönste Pointe des Romans ergibt sich aus einem Treffen Gunthers mit dem Schauspieler Gustaf Gründgens, dem Vorbild für den Opportunisten Hendrik Höfgen aus Klaus Manns »Mephisto«. Gunther ermittelt als verkrüppelter Kriegsveteran getarnt undercover (Kerr modellierte Gunthers Tarnung nach Otto Dix’ berühmtem Bild »Der Streichholzhändler«), schmeichelt dem Schauspieler, der ihm zuvor eine Kippe an den Kopf geschnippt hatte, was Gründgens zu der Feststellung bringt: »Dann wissen Sie also, wer ich bin.« Woraufhin Gunther antwortet: »Sie sind der größte Schauspieler Deutschlands. Das sagen zumindest die gebildeten Leute. Sie sind der große Emil Jannings.«
Drei eher heitere Beispiele, die zeigen, wie intelligent Kerr mit Fakten umgeht. Das gilt nicht nur für die Begegnung mit Künstlern, sondern auch für Gunthers Verhältnis zu Nazigrößen wie Heydrich, Himmler oder dem Reichskriminaldirektor Nebe, letzterer eine Art Nemesis für Gunther. Kerr lässt sich von den Fakten nicht einschüchtern, eignet sie sich an, um, ähnlich wie – der stilistisch allerdings völlig anders arbeitende – James Ellroy, etwas ganz Eigenes, Eigenständiges daraus zu schaffen. Die Aufgabe des Anspruchs auf eine (ohnehin illusorische) Authentizität unterscheidet Kerrs Romane wohltuend von den inzwischen unzähligen historischen Krimis, die diese Zeit abdecken und die in ihrer Kulissenhaftigkeit vorhersehbar, austauschbar und meist banal sind.
Kerrs Umgang mit der Vergangenheit funktioniert zum einen, weil das Wissen, das er über Deutschland in den Jahren vor, während und nach dem NS-Regime besitzt, so profund ist. Vor allem aber, weil dieses Wissen nicht nur aus angelesenen Fakten besteht, sondern aus einer tiefen Einsicht, was diese Fakten bedeuten oder bedeuten könnten. Er beschreibt diese Zeit nicht, er macht sie erlebbar. Wer die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts wirklich verstehen will, muss Philip Kerrs Bernie-Gunther-Romane lesen. Und »Metropolis« ist ein perfekter Einstieg in eine Reihe, die zum Allerbesten gehört, das im Genre in den vergangenen drei Jahrzehnten geschrieben wurde.
https://ift.tt/3oEMd4K
Unterhaltung
Bagikan Berita Ini
0 Response to "Krimiautor Philip Kerr: Der Mann, ohne den es »Babylon Berlin« vielleicht nie gegeben hätte - DER SPIEGEL"
Post a Comment