Colonel Karremans spricht Srebrenica falsch aus. Wie »Srebenika«. Es ist der 13. Juli 1995, und erst ein paar Tage später wird die ganze Welt wissen, dass es korrekterweise »Srebreniza« heißen muss – wenn es die bosnische Stadt weltweit in die Nachrichten geschafft hat, weil die serbische Armee ein schier unvorstellbares Massaker an den muslimischen Jungen und Männern der Stadt verübt hat. Das schlimmste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Nichtsdestotrotz sollte der niederländische Colonel Thom Karremans wissen, wie man den Namen der Stadt ausspricht. Als Kommandeur der Uno-Schutzzone Srebrenica ist er schließlich für deren Schutz zuständig. Aber für solche Kleinigkeiten hat er Aida (Jasna Đuričić in einer unvergesslichen Rolle) an seiner Seite. Vor dem Krieg hat die Mittfünfzigerin als Lehrerin gearbeitet, nun ist sie als Dolmetscherin für die Uno tätig und übersetzt für Karremans Sätze wie »Mehr kann man im Moment nicht tun.« Und als Antwort des Bürgermeisters von Srebrenica: »Das sagt ihr immer. Doch passieren tut nie was. Wie vor drei Tagen, als die Serben in die Schutzzone einmarschiert sind. Und wie vor zwei Tagen, als sie die Stadt belagert haben.«
Das Verbrechen von Srebrenica, bei dem über 8000 Bosniaken ermordet werden und das wenige Zeit später als Völkermord anerkannt wird, steht in Jasmila Žbanić' herausragendem Drama »Quo vadis, Aida?« kurz bevor. Die bosnische Regisseurin, die seit Längerem in Berlin lebt, hat den Film zum 25. Jahrestag des Massakers 2020 fertiggestellt, doch weder seine Eindringlichkeit noch seine Aktualität sind an dieses Datum gebunden. Vor zwei Monaten erst war der verantwortliche bosnisch-serbische General Ratko Mladić in den Schlagzeilen. Sein Einspruch gegen die Verurteilung wegen Völkermords war abgelehnt worden.
Kontrolle für immer verloren
Berlinale-Gewinnerin Žbanić stellt mit ihrem fünften Film, der in diesem Jahr nach etlichen Auszeichnungen auch für den Auslands-Oscar nominiert war, die ewige Frage nach Verantwortung im Krieg. Sie stellt sie einmal an Colonel Karremans (Johan Heldenbergh), dem erst die Unterstützung durch Nato-Kampfjets versagt wird, und der dann selbst einen schweren Fehler begeht. Er lässt serbische Soldaten auf das Uno-Gelände, wo Tausende von Geflüchteten vor eben diesen Streitkräften Schutz gesucht haben. Danach wird er nie wieder die Kontrolle über die Situation gewinnen.
»Quo vadis, Aida?«
Bosnien-Herzegowina et al. 2020
Regie: Jasmila Žbanić
Buch: Jasmila Žbanić nach dem Sachbuch »Under the UN-Flag« von Hasan Nuhanović
Darstellende: Jasna Đuričić, Johan Heldenbergh, Boris Isaković, Raymond Thiry, Izudin Bajrović
Produktion: Deblokada Produkcija
Verleih: Farbfilm
Länge: 101 Minuten
FSK: ab 12 Jahren
Start: 5. August 2021
Das zweite Mal fragt Žbanić Aida nach deren Verantwortung. Wo Karremans zögert, antwortet Aida umso entschlossener. Als offizielle Uno-Mitarbeiterin übersetzt sie kein Wort zu viel oder falsch, nur mit ihrer zerfurchten Stirn und viel Druck in der Stimme macht sie klar, für wie ernst sie die Situation hält. Vor allem aber versucht sie alles, um ihren Mann und ihre zwei erwachsenen Söhne zu schützen. Sie holt sie mit einem Trick auf das Gelände der Blauhelme, während rund 25.000 Menschen jenseits der Zäune auf Einlass hoffen. Sie versucht, sie auf eine Liste der Mitarbeiter setzen zu lassen, die in keinen der von den Serben gestellten Busse steigen müssen, die die Menschen von Srebrenica vermeintlich in Sicherheit bringen sollen. Und als das scheitert, versucht sie, sie auf dem geräumten Gelände zu verstecken.
Der Horror des Nichtwissens
Žbanić erzählt von den Tagen und Stunden vor dem Massaker mit einer Spannung, die sich nie aus der falschen Hoffnung speist, dass alles doch noch anders kommen könnte. Sie schöpft sie allein aus der physischen und zeitlichen Begrenztheit ihres Settings, der Handvoll von Tagen auf dem Uno-Gelände, die sich als einige der fatalsten in der Geschichte der Vereinten Nationen und der Niederlande erweisen werden. 2013 bestätigte das höchste Gericht der Niederlande ein Urteil, nach dem das Land eine Mitschuld am Tod der Muslime von Srebrenica trägt.
Vor allem aber trifft Žbanić die Balance aus erzählerischer Ordnung und Unordnung, die die besten Kriegsfilme auszeichnet. Man ist zu jeder Zeit emotional an ihren Hauptfiguren dran, selbst an Karremans und seinem Stellvertreter Major Franken (Raymond Thiry), deren Überforderung Žbanić nachvollziehbar, wenn auch nicht verzeihlich macht. Gleichzeitig hat man nie einen Überblick, was jenseits des Uno-Geländes passiert, was die serbischen Streitkräfte und vor allem General Mladić (Boris Isakovic) planen. Der Horror des Nichtwissens macht sich breit. Dann stehen plötzlich Busse vor dem Uno-Gelände, und die Serben fangen an, Männer und Frauen getrennt voneinander abzutransportieren.
Am Ende stellt Žbanić die Frage nach der Verantwortung noch einmal, aber diesmal zu Friedenszeiten. Wer kann wie mit den Ereignissen leben? Wer dürfte eigentlich nicht glücklich sein, weil er sich schuldig gemacht hat, und wer kann nicht glücklich sein, weil er so viel verloren hat? Ein letztes Mal schaut sie dazu in Aidas Gesicht. Wird es ihr wieder eine Antwort geben? Um das zu wissen, muss man »Quo vadis, Aida?« gesehen haben.
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