Album der Woche:
Irgendwann einmal muss es die ganz große Geschichte über den Schusswaffenfetisch der in Berlin lebenden Indie-Stars geben. Nach Drangsal und Max Rieger lässt nun auch Dagobert auf dem Cover seines neuen Albums einen Mann mit Gewehr posieren: sich selbst.
Denkt man.
Bei näherer Betrachtung ist das Schießeisen dann doch nur ein flintenförmiger Ast.
Dagobert bleibt der größte Schelm der deutschsprachigen Popmusik. Aber auch ihr vielleicht leidenschaftlichster Chansonnier. »Jäger« heißt seine vierte Veröffentlichung seit 2013, das passt zum wildromantischen Covermotiv, deutet aber auch auf Persönliches hin, denn Dagoberts Klarname ist Lukas Jäger. Sein vorläufiges Meisterwerk hatte der 1982 in der Schweiz geborene Sänger und Musiker vor zwei Jahren mit »Welt ohne Zeit« herausgebracht, nun zog er sich aus seiner Wahlheimat Berlin vorübergehend in die Einsamkeit der Bergwelt seiner alten Heimat zurück.
»Jäger«, erneut produziert von Konrad Betcher, ist musikalisch etwas spröder geraten als das klangsatte Vorgängeralbum, dafür geht es inhaltlich noch einmal tiefer hinein in die manische Psyche des Troubadours Dagobert, der sich seine Obsession mit der Liebe, ja, vom Taler-Fetisch Dagobert Ducks abgeguckt hat. Wie im Geldspeicher der Emotionen hockte dieser dandyhafte Protagonist nun also in einer Hütte – und sinnierte sich einige der fantastischsten und fiebrigsten Songs seiner bisherigen Karriere zusammen.
Doppelbödigkeit ist dabei immer mit im Spiel, etwa gleich in den ersten beiden Liedern, »For the Love of Marie« und »Nie wieder arbeiten«, in denen dieser von der Welt entfremdete Dagobert sich als Stalker (hoffentlich) fiktiver Liebschaften in der eigenen Hingerissenheit suhlt: »Nichts anderes tun, als an dich denken/ Mich von nichts und von niemandem ablenken«. Schon bald wird jedoch klar, dass es zumindest im zweiten Song nicht unbedingt um eine Person, sondern um das ewig fasziniert bestarrte Handy handeln dürfte.
Um die Unendlichkeit geht es viel auf diesem Album, das oft heiter, manchmal sinister, auf elektronischen NDW-Sounds aus dem Synthie und dem Drumcomputer vor sich hin tuckert. Dann plötzlich: düstere Hip-Hop-Beats und sehnsüchtiges Morricone-Ambiente im Titelsong, der von Jägers Familie handelt. »Oma ist toooot, Opa ist auch tot/ Sie sind vorausgefahren, und wir werden nachfahren«, sprechsingt er darin, zunächst ernüchtert, um dann berührend sentimental den Zusammenhalt selbst verkrachtester Mischpoken zu beschwören. Eine düster funkelnde Corona-Ode im Gangsta-Stil. Im zugehörigen Videoclip ist das Jagdgewehr dann tatsächlich ein echtes.
Der Tod lauert hier immer wieder zwischen den erhabenen Tannen (»Im Wald«), doch Dagoberts bildungsreisender Romanheld rebelliert gegen die eigene Vergänglichkeit, das Dahinrotten im Unterholz. Er ringt mit philosophischer Verve um Wiedergeburt (»Ich will noch mal«), sorgt sich darum, ob er den »heiligen Gral« noch mal finden wird (natürlich die Liebe) und geht schließlich wie ein lebensmüder Major Tom auf Mondfahrt nach »Aldebaran«: »Schönheit ist der Motor, und das Raumschiff ist die Musik im Ohr.«
Die Grenze zwischen Todessehnsucht und Transzendenz ist fließend in diesen traurig-euphorischen Lockdown-Liedern. Auch Unsinn ist in ihnen immer eine Möglichkeit: In der tolldreisten Disconummer »Wunderwerk der Natur« zuckt und zappelt Dagobert wie einst Joachim Witts »Herbergsvater« in der Zwangsjacke und deliriert von süßen, kleinen Honigwaben – »oh Baby, Baby, ballaballa/ Tschingelingeling-Schallala-Schubidubidu«.
Nachdem dann erneut die holde Schönheit (der Weiblichkeit, der Liebe?) in kitschigster Münchner-Freiheit-Melancholie und Flippers-Schlagerhaftigkeit zelebriert wird (»Das Mädchen aus der schönen Welt«), herrscht tiefenentspannter Fatalismus. Der solipsistische Barde, ganz erschöpft und verbraucht vom Liebesdienst in freier Wildbahn, widmet sich selbst eine kräftigende Hymne: »Niemand lebt so wie du/ Ganz weit weg, ganz alleine, ohne all deine Freunde/ Nur für dich«, singt er in der am Ende mit viel Hall aufwallenden Pianoballade »Für Dagobert«, »das Leben wirst du nur spüren mit Musik«. Dreams are his reality, säuselt dazu leise Richard Sanderson.
Hach. Seufz.
Jetzt komm' aber bitte mal schleunigst wieder zurück nach Berlin! (8.2)
Kurz Abgehört:
The Notwist – »Vertigo Days«
Der moderne Krautrock von The Notwist war immer schon perfekt für lange, melancholisch verdöste Transitpassagen geeignet: Von Weilheim aus, der Heimat des Kollektivs um die Gebrüder Acher, ist ja alles weit entfernt. Für »Vertigo Days« wurde nun zumindest virtuell der musikalische Radius mit Gästen wie Angel Bat Dawid und Juana Molina global erweitert. Ein molliger Flow durch diese Eiszeit. (7.0)
Celeste – »Not Your Muse«
Wer vom »Focus« als »Die neue Amy« bejubelt wird, gemeint ist Winehouse, muss ja mindestens der nächste beste Superstar sein. Nach schmissigen Hits wie »Stop This Flame« weiß die in den USA geborene Britin Celeste auf ihrem Debüt mit überreifer Jazz-Stimme und gefühligen Soul-Songs zu punkten. Letztlich aber klingt dann doch alles sehr klassisch und allzu gediegen. Doch eher die neue Norah (Jones)? (6.5)
Anna B Savage – »A Common Turn«
Ein Debütalbum wie eine offene Wunde, aus der ein faszinierend dunkles, klassisch ausgebildetes Falsett quillt, als würde Ahnoni Trauriges von Joni Mitchell singen: Anna B Savage, eine Sängerin aus London, schrieb sich die Qualen einer toxischen Beziehung von der Seele und formte sie in magische, brüchige Noir-Balladen. In denen geht es um Schmerztherapie, aber auch mal um erlösende Masturbation. (7.5)
Goat Girl – »On All Fours«
Auch wenn die Musik auf dem zweiten Album dieser All-female-Band aus London weniger furios und dringlich wirkt als auf ihrem Debüt: Goat Girl wühlen auf allen Vieren im Restmüll der westlichen Zivilisation an den Ufern der Themse und haben in ihrer elaborierten, post-apokalyptisch verstrahlten Punk-Disco viel zu sagen – über Klimawandel, Kapitalismus und, äh, Jazz im Supermarkt. (8.0)
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