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Giorgos Lanthimos' Film „Poor Things“ mit Emma Stone - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Im Kopf, in der Phantasie des griechischen Regisseurs Giorgos Lan­thimos muss es chaotisch zugehen. In seinen Filmen jedenfalls schwirren Bilder von Kostümen, Frisuren, Möbeln verschiedener Epochen durcheinander, Architekturstile, Versatzstücke aus antiken Mythen und der Kinogeschichte. Was sich auszuschließen scheint, findet hier zueinander, was nicht recht passt, wird mit Raffinement verknüpft.

Das Patchwork, das in diesem Prozess entsteht, hat nichts Beliebiges oder Zusammengestückeltes. Es wird zu einer eigenen Welt, die nur in der Raumzeit des Kinos existiert. Das war so in Filmen wie „The Killing of a Sacred Deer“ (2017), wo es Iphigenie nach Cincinnati verschlug, oder in „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (2018), in dem Lan­thimos subtil die Konventionen des Kostümfilms unterlief.

Jetzt, in „Poor Things“, für den er 2023 beim Festival von Venedig den Goldenen Löwen erhielt, hat Lanthimos sein Verfahren noch einmal radikalisiert. Der letzte Anschein von Realismus ist verschwunden. Wir betreten einen Raum vollendeter Künstlichkeit, der keine Realitätseffekte braucht, um welthaltig zu wirken.

Wir folgen einer Erzählung, in der Topoi und Tropen sich mischen, ohne dass alles auseinanderflöge: ein Jonglieren mit Motiven des viktorianischen Schauerromans, eine Pygmalion-Variante, die Ovid gefallen hätte, eine schräge Coming-of-Age-Story und die Geschichte einer Emanzipation. Visuell ist „Poor Things“ so opulent, dass man sich kaum satt sehen kann: ein überbordender Synkretismus, eine durch und durch hybride Welt.

Der Film beruht auf einem Roman des Schotten Alasdair Gray von 1992, auf Deutsch unter dem Titel „Arme Dinger: Episoden aus den frühen Jahren des schottischen Gesundheitsbeamten Dr. med. Archibald McBandless“ erschienen. Lanthimos und Tony McNamara, der schon das Drehbuch zu „The Favourite“ schrieb, haben sich von Grays erzählerischer Collage verabschiedet.

So opulent, dass man sich kaum satt sehen kann

Bei ihnen gibt es nur eine Perspektive: die von Bella Baxter, der Homuncula, der von den Toten Wiedererweckten. Zu Beginn stürzt sich eine Frau im königsblauen Kleid von einer Themsebrücke, und ihr Fall ist so tief, als führte er in eine andere Dimension.

Was mit ihr geschehen, wohin sie gefallen und wiederaufgefahren ist, erfahren wir aus ein paar farbigen Einsprengseln im schwarz-weißen Prolog. Godwin Baxter (Willem Dafoe), ein, wenn es das gibt, leidlich aufgeklärter mad scientist, hat die junge Frau mit Elektroschockbehandlung ins Leben zurückgeholt, nachdem er ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes eingepflanzt hat. Es kostet, bei aller Künstlichkeit und Diskretion der Darstellung, eine gewisse Überwindung, dieser Prozedur zuzusehen.

So entsteht eine wandelnde Diskrepanz: die Mentalität eines Kindes im Körper einer jungen Frau. Sie isst, spricht, trotzt, benimmt sich kindgerecht. Ihr Erzeuger, den sie „God“ nennt, betrachtet sie als Experiment, dessen Rahmenbedingungen kontrolliert sein wollen. Er lässt sie nicht aus dem Haus. Dafür öffnet die Kamera die Räume. Die extremen Weitwinkel und das immer wieder verwendete Fischaugenobjektiv lassen den Schauplatz so groß erscheinen, als nähme man ihn durch Kinderaugen wahr.

Und man sieht fasziniert dabei zu, wie Emma Stone dieses unwirkliche Wesen mit den unendlich langen schwarzen Haaren lebendig werden lässt, mit staksigen Schritten zunächst, unberechenbarem Verhalten, unbekümmert um alle Konventionen. Sie hat Wutanfälle und lässt sich vorlesen zum Einschlafen, sie quält Tiere, spielt mit dem Essen und entdeckt eines Tages die Freuden der Selbstbefriedigung, der sie mit Hingabe und geeignetem Gemüse nachgeht.

Unschuld und offene Sinne

Emma Stone entwirft eine Figur der Unschuld und der offenen Sinne. Das bizarr zusammengeflickte Gesicht von „God“, das, in einer schönen Umkehrung, wie die Züge von Viktor Frankensteins Monster gestaltet ist, findet sie weder hässlich noch hübsch, weil sie nichts anderes kennt; weil ihr all die Vorurteile, Normen, Über-Ich-Appelle, das ganze System verinnerlichter Muster, das die Soziologie „Habitus“ nennt, fremd sind.

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