Search

Elbphilharmonie: „Die Gesellschaft braucht schöne Erlebnisse“ - WELT - WELT

Gerade ist er aus seiner Heimatstadt New York in die Hansestadt zurückgekehrt: Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Den Saisonauftakt gestaltete er mit einer Uraufführung der Pentalogie „The Elements“ für seinen Freund, den Geiger Joshua Bell. Im Interview spricht er über die Aufgaben von Künstlern angesichts weltweiter Krisen und die Entwicklung der Arbeit mit dem Residenzorchester der Elbphilharmonie, bei dem er seinen Vertrag gerade bis 2029 verlängert hat.

WELT: Wie fühlt es sich an, wieder in Hamburg zu sein?

Alan Gilbert: Wenn die Chemie stimmt, fühle ich mich dort, wo ich arbeite, auch zu Hause. So geht es mir jetzt wieder mit Hamburg und dem Elbphilharmonie Orchester.

WELT: Chemie ist ein gutes Stichwort. Zur Saisoneröffnung am 1. September in der Elbphilharmonie steht im Konzert mit dem Ausnahmegeiger Joshua Bell eine Uraufführung an: „The Elements – Suite für Orchester und Violine“ von fünf zeitgenössischen Komponisten zu fünf Elementen. In der Chemie gibt es mittlerweile 118 …

Gilbert: Ein Konzert dauert zwei Stunden, da muss man sich entscheiden. „The Elements“, gemeint sind hier die ursprünglichen der griechischen Philosophie „Wasser, Erde, Feuer, Luft und Raum“, ist ein Projekt meines sehr guten Freundes Joshua, der zugleich einer meiner Lieblingsmusiker ist. Er wollte die Komponistinnen und Komponisten Jake Heggie, Jennifer Higdon, Edgar Meyer, Jessie Montgomery und Kevin Puts zusammenbringen, um ein Bild unserer Welt, des Lebens, des Universums zu zeichnen – lauter anerkannte Komponisten in den USA. Wie ihre Stücke als Gesamtwerk wirken, werden wir im Konzert erleben.

WELT: Beeinflusst Ihre mittlerweile enorme Expertise mit Blick auf den Saal der Elbphilharmonie Ihre Programmauswahl?

Gilbert: Indirekt, denn ich habe das Gefühl, hier geht alles, also gibt es bei der Auswahl der Stücke keine Einschränkung durch den Saal. Es gibt andere Konzerthäuser, da denke ich: Dieses Werk ist zu groß für die Bühne oder dieses kleine Stück wird in diesem Raum keinen großen Eindruck machen. Im großen Saal der Elbphilharmonie kann man ein Streichquartett ebenso spielen wie die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss, eines der am größten besetzten Orchesterstücke überhaupt. Das eröffnet auch dem Publikum das Gefühl, das hier alles möglich ist. Wir haben hier Opern wie „Le Grand Macabre“ von Ligeti aufgeführt und Gershwins „Porgy & Bess“, wir haben Jazz gemacht. Es fühlt sich an, als sei der Saal eine leere Leinwand, die darauf wartet, bemalt zu werden.

WELT: Welche Bilder wollen Sie malen? Wenn Sie einen Blick auf die Weltlage werfen: Der Krieg in der Ukraine geht immer weiter, die politische Instabilität weltweit wächst … wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Gilbert: Das ist ein wenig surreal. Bei den Proben entscheiden wir Fragen wie: Sollte dieser Ton länger oder kürzer erklingen? Sollte diese oder jene Stimme lauter sein – befassen uns also mit subtilen, musikalischen Details, während die Menschen nicht weit von uns ermordet werden, die politischen Situation weltweit prekär ist. Die Entwicklungen in den USA sind erschreckend. Da fühlt es sich manchmal schräg an, so weit weg zu sein von den existenziellen Bedürfnissen wie: Nicht erschossen zu werden, genug zu trinken und zu essen zu haben, Menschenrechte … In gewisser Weise müssen wir dennoch als Künstler auch möglichst schöne Erlebnisse ermöglichen. Das ist unsere Aufgabe und die Gesellschaft braucht sie dringender denn je.

WELT: Eben auch die westlichen Gesellschaften …

Gilbert: … wie in Schweden zum Beispiel, wo ich lebe. Da haben wir unter der Rechtsregierung gerade eine echte Krise, die Kulturförderung wird auf ein Mindestmaß beschränkt, also nach meiner Einschätzung viel zu gering gefördert. Lebensqualität kann nur durch kulturelle Angebote bereichert werden. Wenn sie bei den Orchestern sparen, bei den Museen und Kulturzentren ist das selbstsüchtig und kurzsichtig. Nicht jeder geht ins Museum und nicht jeder ins Konzert, aber wenn ein Land eine reiche Tradition hat, sollte es die Möglichkeit dazu geben. Die Furcht vor dem Fremden, den Fremden bestimmt hier die Politik, ich muss das nicht weiter ausführen. Ich hoffe sehr, dass es da zu einer Gegenbewegung kommt, denn Schweden hat Künstlerinnen und Künstler traditionell immer sehr unterstützt.

WELT: Mit Blick auf humanistische Werte ist Schweden seit Jahrzehnten eines der führenden Länder in Europa.

Gilbert: Die freie Rede, der freie künstlerische Ausdruck gehören in einer freien Gesellschaft einfach dazu. Meine Frau hat mir ein Buch gezeigt, dass Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre an jeden Gymnasiasten in Schweden verteilt wurde: Ein Buch der Ideen. Darin sind Bilder, Gedichte, Essays, positive ebenso wie fürchterliche Bilder, zum Beispiel von schwarzen Menschen, die von Rassisten bei lebendigem Leib verbrannt werden oder Kriegsbilder. So ein Buch zu verteilen, ist heute wohl undenkbar. Aber damals erhielt jeder dieses Buch, damit er eine Vorstellung davon bekommt, was die Menschheit ausmacht. Ein Schnappschuss der Welt, im Guten wie im Bösen. Das Buch ist schockierend, selbst für 18-Jährige von heute. Aber es zeigt eben jede Richtung, die Menschen einschlagen können, das war die Idee dahinter.

WELT: Wenn Sie Ihre Programme entwerfen, nehmen Sie dann das Orchester und das Publikum mit auf eine ähnliche Reise, in der alles Mögliche anklingen kann?

Gilbert: Gewissermaßen. Wenn mich und das Orchester etwas interessiert oder Christoph Lieben-Seutter, dann ist die Chance groß, dass sich das auch fürs Publikum lohnt. Da steckt Erfahrung drin und Geschmack dahinter. Wenn Konzerthäuser versuchen, es allen Kritikern und vermeintlichen Publikumswünschen recht zu machen, fällt es schwer, einen Standpunkt zu erkennen. Wer es allen recht machen will, wird es wahrscheinlich am Ende niemandem recht machen. In der Elbphilharmonie ist die Balance zwischen Events, Repertoire, neuen Stücken und anderen Angeboten schon sehr gut, wenn auch noch nicht perfekt. Wir arbeiten dran.

WELT: Ein Wort zu den Gastdirigenten: Nach welchen Kriterien wird entschieden, wer kommt?

Gilbert: Wir diskutieren das im NDR und mit der Elbphilharmonie, zum einen zählen die Gäste zu den besten Dirigenten, zum anderen haben sie eine gute Beziehung zum Orchester. Da ergibt sich die Auswahl von selbst. Gleichzeitig gucken wir nach jungen Talenten und versuchen, neue Beziehungen aufzubauen. Aber ich bin nicht nur froh über die Dirigenten der kommenden Saison, sondern auch über die Solistinnen und Solisten wie eben Joshua Bell, der unser Artist in Residence ist, Anna Vinnitskaya, Nils Mönkemeyer, Frank Peter Zimmermann, um nur einige zu nennen. Dass wir gesuchte Partner auf dem Parkett sind, ist ein Zeichen von Erfolg.

WELT: Sie haben Ihren Vertrag gerade bis 2029 verlängert. Wie entwickelt sich Ihre Zusammenarbeit mit dem Orchester – wird es schwieriger oder leichter, etwas zu erreichen?

Gilbert: Faszinierenderweise wird es einfacher. Das Orchester und ich kennen uns nun länger als 20 Jahre, 2001 habe ich angefangen. Nun ist es kein Geheimnis, dass das Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester selten unkompliziert ist. Aber wir mögen uns immer noch, kommen gut klar und arbeiten wunderbar zusammen. Das ist für mich eine einzigartige Erfahrung. Auf dieser Basis kommen wir weiter, tauchen tiefer in die Materie ein. Das geht nur mit neugierigen Musikerinnen und Musikern, die das auch wollen, denn das Musizieren ist häufig eine Suche nach etwas, das sich gar nicht so schnell dingfest machen lässt. Nur so sind aufregende musikalische Abenteuer und Reisen möglich.

Das Konzert wird am 1. September von 20 Uhr an live aus der Elbphilharmonie im Rahmen des ARD Radiofestivals übertragen. Es moderiert Philipp Cavert. Online gibt es zudem einen Live-Stream auf NDR.de und in der NDR EO App.

Adblock test (Why?)

Artikel von & Weiterlesen ( Elbphilharmonie: „Die Gesellschaft braucht schöne Erlebnisse“ - WELT - WELT )
https://ift.tt/7pvRHiI
Unterhaltung

Bagikan Berita Ini

0 Response to "Elbphilharmonie: „Die Gesellschaft braucht schöne Erlebnisse“ - WELT - WELT"

Post a Comment

Powered by Blogger.