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Simone Biles und der „Kampf mit bösen Geistern“ - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Das olympische Teamfinale der Turnerinnen war ein großartiger, hochspannender Wettstreit zwischen den beiden Turn-Supermächten der vergangenen Jahrzehnte. Ein junges russisches Team obsiegte deutlich gegen die USA und gewann – nach Jahrzehnten der Dominanz der Sowjetunion in den Siebziger- und Achtzigerjahren – das erste olympische Teamgold für Russland.

Die US-Turnerinnen, die in der vergangenen Dekade schier unbesiegbar schienen, sahen sich nach dem ersten Gerät gezwungen, das Team umzustellen: Jordan Chiles musste am Barren und Balken einspringen und tat dies bravourös. Sunisa Lee, die unerwartet auf die Bodenfläche musste, steuerte die höchste Wertung an diesem Gerät bei. Aber wie zu erwarten war, dreht sich bei diesen Turnwettbewerben alles um Simone Biles; also auch – oder vielleicht erst recht – dann, wenn sie nicht turnt.

Verlust des Raum-Zeitgefühls

Die schon im Vorfeld zum Superstar dieser Olympischen Spiele bestimmte 24-Jährige hatte nach einem Blackout am Sprung entschieden, den Wettkampf abzubrechen. Ihr war widerfahren, was auch andere Turner und Turnerinnen kennen und im Englischen als „Twisties“ – von Twist, Schraube, also Längsachsendrehung – bezeichnet wird: Der plötzliche Verlust des Raum-Zeitgefühls, während sich der Körper in der Luft befindet. So zeigte Biles anstatt der angekündigten zweieinhalb Schrauben nur anderthalb und landete unkontrolliert auf der Matte, glücklicherweise auf den Füßen.

Nein, sie habe „nicht entschieden, nur anderthalb Schrauben zu zeigen“, sagte Biles in der Pressekonferenz und musste über die Frage lachen. Was da geschehen sei, sei sehr „uncharakteristisch“ für sie. In der Tat ist es nicht zuletzt Biles‘ Vermögen, ihre Position in der Luft in jeder noch so komplexen Bewegung exakt unter Kontrolle zu haben, das ihre außergewöhnliche Akrobatik kennzeichnet.

Es sei schon in der Einturnhalle ein Kampf mit „all diesen bösen Geistern“ gewesen, nach diesem Sprung habe sie gewusst, es sei „besser, einen Schritt zurück“ zu tun, auch mit Blick auf das bestmögliche Teamergebnis: „Sie haben einen großartigen Job gemacht und sie sollten sehr stolz auf diese Silbermedaille sein, die sie ohne mich gewonnen haben.“ Simone Biles hatte den Wettkampf ihrer Teamkolleginnen begleitet, geholfen, wo es ging, angefeuert und mit ihnen über gelungene Übungen gejubelt.

„Ich wollte nicht da rausgehen, irgendeinen Mist bauen und mich verletzen.“ Simone Biles über ihre Entscheidung, nicht mehr anzutreten.

„Ich wollte nicht da rausgehen, irgendeinen Mist bauen und mich verletzen.“ Simone Biles über ihre Entscheidung, nicht mehr anzutreten. : Bild: Reuters

Zu ihrer Entscheidung sprach Biles von ihrer „mentalen Gesundheit“ und von ihrer körperlichen Unversehrtheit: „Ich wollte nicht da rausgehen, irgendeinen Mist bauen und mich verletzen.“ Dieser Aspekt ist wichtiger als man vielleicht glauben mag, wenn man an die scheinbar mühelos vorgetragenen Höchstschwierigkeiten der Weltbesten gewöhnt ist.

Turnen ist im Unterschied zu anderen Sportarten – man nehme wahlweise das Dressurreiten, das Tischtennisspiel oder das Bogenschießen – eine sehr gefährliche Sportart. Sich den Hals zu brechen ist eine reale Gefahr, und die Liste derjenigen, denen das in Training oder Wettkampf geschehen ist, ist leider lang. Es kann nach einem missglücktem Absprung, zum Beispiel vom zehn Zentimeter breiten Schwebebalken, passieren, aber auch und gerade dann, wenn man in der Luft die Orientierung verliert, aus welchem Grund auch immer.

Simone Biles, die erklärte, „Twisties“ hie und da bereits im Training erlebt zu haben, sagte zur mentalen Belastung, diese Olympischen Spiele seien sehr „stressig“, es seien viele Dinge zusammengekommen, vom fehlenden Publikum über die um ein Jahr verlängerte Vorbereitung bis hin zu einer sehr anstrengenden vergangenen Woche.

Die weltweiten Reaktionen und Kommentare sind weitestgehend positiv. In den Sozialen Medien zollten ihr zahlreiche Spitzensportler größten Respekt für ihre ungewöhnliche Entscheidung. Boden-Olympiasieger Kyle Shewfelt aus Kanada schrieb, er sei „stolz“ auf Simone, sie habe ihre „eigene Grenze erkannt“ und reagiert. Auf Biles angesprochen sagte die US-Schwimmerin Katie Ledecky in Tokio: „Ich hoffe, sie macht das, was für sie am besten ist,“ und: „Wir Schwimmer unterstützen sie. Wir müssen aufeinander Acht geben, körperliche Gesundheit und psychische Gesundheit sind wichtig.“

Die großen US-Medien vermeiden jedes kritische Wort, selbst die Frage, ob denn die mentale Vorbereitung von Biles und ihrem Umfeld auf dieses Ereignis vielleicht unzureichend gewesen sei. Ob sich vielleicht alle zu sehr darauf verlassen haben, dass Biles, wie bislang, allem Druck zum Trotz einfach turnt. Der einstimmige Tenor lautet: Das Wohlbefinden geht vor.

Biles als cash cow

Diese Erkenntnis ist nach #MeToo, der Aufdeckung des missbräuchlichen US-Turnsystems und der jüngsten Debatte um die psychische Gesundheit der Tennisspielerin Naomi Osaka nicht nur zeitgemäß, sondern es ist höchste Zeit. Und doch könnte man auch sagen: Der Star bleibt der Star, nur das Narrativ wird leicht abgewandelt. Denn wie schon zuvor wird damit das, was Simone Biles tut oder sagt, komplett eingehegt und so letztlich eben auch instrumentalisiert.

Nicht nur für den US-amerikanischen NBC-Konzern, der dem IOC Milliarden für die olympischen Übertragungsrechte gibt, ist, so bitter das klingen mag, Simone Biles vor allem eines: eine cash cow. Ganz sicher hat sich auch IOC-Präsident Thomas Bach, der direkt nach Wettkampfende noch im Innenraum zielstrebig auf Simone Biles zuging, nur besorgt nach ihrem Befinden erkundigt. Aber: Welches zusätzliche Gewicht hat eine solche Geste? Auf eine Athletin, die zu diesem Zeitpunkt immer noch fünf olympische Goldmedaillen gewinnen kann und doch einen Tag zuvor schon kundgetan hatte, sie verspüre das „Gewicht der ganzen Welt“ auf ihren Schultern. Am Mittwoch gab der US-Verband bekannt, dass Biles auch an diesem Donnerstag auf das Mehrkampffinale verzichten wird.

Biles hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie sich ihrer Rolle als der Superstar der Spiele bewusst ist. Sie hatte eine klare Strategie, die sie im Facebook-Mehrteiler ‚Simone versus herself‘ offenlegt: Umarmen, was sie nicht ausradieren kann. Das war ihr erklärter Umgang mit den „bösen Geistern“. So ging sie zum Beispiel mit ihrem Verband um, den sie hinnahm und auch kritisierte. Oder auch mit dem Attribut GOAT, Greatest Of All Times, das ihr tausende Male zugeschrieben worden war, bevor sie es selbst aufnahm und sich eine Ziege auf den Turnanzug sticken ließ.

Plötzlich galt sie als arrogant. Auch jetzt kursieren kritische Stimmen à la: Wenn sie den Druck nicht aushält, soll sie halt zu Hause bleiben. Es wird interessant sein, ob Biles‘ Entscheidung auch hinsichtlich des vielerorts versprochenen Kulturwandels im Turnsport Konsequenzen zeitigt. Dass der US-Verband ihre Entscheidung akzeptiert hat und sich hinter sie stellt, darf als Fortschritt betrachtet werden. Eine solche Situation wäre unter Márta Károlyi undenkbar gewesen.

Kaum eine Spitzenturnerin der letzten Jahre hat so viel und so oft gelacht wie Simone Biles. Sie sah aus, als würde ihr das eigene Agieren Freude bereiten. Seit sie auf der internationalen Bühne erschienen ist, hatte sie denn auch immer und immer wieder betont, wie viel „fun“ ihr das Turnen bereite. Warum das Comeback? Warum immer neue, noch schwierigere Teile? Die Antwort war immer: „Weil es mir eine solchen Spaß macht!“ Nicht zuletzt angesichts der negativen Erfahrungen in der Vergangenheit wollte sie diese Olympischen Spiele genießen. Am Dienstagabend sagte sie: „Ich weiß, es sind Olympische Spiele, aber ich wollte es für mich tun. Aber ich habe es wieder für andere Menschen getan. Es tut mir im Herzen weh, dass das, was ich liebe, mir weggenommen worden ist, um andere Menschen zu erfreuen.“

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