Neues Buch über Reisesehnsucht: Der Tacho endet bei 110 - DER SPIEGEL
Kurz vor dem ersten Lockdown ist Marco Maurer mit einem uralten Cinquecento durch das Italien der Mammas und der Nonnas gefahren. Das Buch über die Reise bewirbt der Autor mit einem ungewöhnlichen Konzept.
Solange man nicht richtig reisen kann, sind Reisebücher ein Ersatz, besonders Bücher über die Reisesehnsucht. Denn in Zeiten, in denen die Sätze mit »in Zeiten von« anfangen, ist die noch größer als sonst.
Der Autor Marco Maurer, 40, erzählt in seinem neuen Buch von einer solchen Sehnsuchtsreise. Einer Zeitreise auch. Der Tacho endet bei 110.
Kurz vor dem ersten Lockdown ist Maurer mit einem Fiat Cinquecento Giardiniera, 18 PS, über Landstraßen von Sizilien bis Hamburg gefahren, einmal längs durch Italien also, das Sehnsuchtsland der Deutschen schlechthin. Von »Frankreichsehnsucht« und »Spaniensehnsucht« spricht niemand, nicht mal in diesen Zeiten. »Italiensehnsucht« hingegen hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag.
Maurer hat unterwegs viel Zeit in Werkstätten verbracht; der Cinquecento ist Baujahr 1968. Noch mehr Zeit aber verbringt er in den Küchen seiner Gastgeber. »Näher als am Küchentisch kann man diesem Land nicht kommen.« Er trifft Olivenbauern in Kalabrien, Safranbauern in den Abruzzen, eine Nonne in Rom. Er sucht die beste Pizza in Neapel und die beste Bolognese, pardon: das beste Ragù, in Bologna. Das alles ist oft nah am Klischee, aber noch näher am Herzen. Denn das Buch hat eine zweite Ebene.
Durch das Italien der Mammas und der Nonnas
Maurer hat als Reporter für die »Neon«, die »Zeit«, die »Süddeutsche« geschrieben und für Jan Böhmermanns »Neo Magazin Royale« gearbeitet, aber er ist auch ausgebildeter Molkereifachmann, aufgewachsen in einem kleinen Dorf in Bayern, seine Mutter Friseurin, sein Vater Kaminkehrer. Über seinen Bildungsaufstieg und die deutsche Bildungsungerechtigkeit hat er 2015 sein erstes Buch geschrieben: »Du bleibst, was du bist. Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet«. Auch sein neues Buch ist nun ein Buch über Herkunft, aber ganz anders.
Im ersten Buch beleuchtete Maurer die Probleme, die damit einhergehen können, aus sogenannten einfachen Verhältnissen zu stammen. Im neuen Buch ist sein Blick auf diese einfachen Verhältnisse ein durch und durch positiver. Maurer, so könnte man sagen, gibt sich mit ganzem Herzen der italienischen Arbeiter- und Bauernromantik hin.
Das ist der Clou des Buches: Maurer sucht nach der eigenen Herkunft, aber er findet sie nicht etwa in Bayern, er findet sie im Italien der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre, dem Italien der Mammas und der Nonnas, einem einfachen Land mit einfachen Genüssen.
Seine erste Liebe hieß Luana, schreibt Maurer auf der ersten Seite, eine Urlaubsliebe. Aber nach 240 Seiten ahnt der Leser, dass das ein bisschen geflunkert war, seine erste Liebe war seine Oma, eine bayerische Bäuerin und Cafébetreiberin, die auch als italienische Nonna eine gute Figur gemacht hätte.
Seiner Großmutter begegnet Maurer auf seiner Reise wieder und wieder. Es ist nämlich auch eine Reise ins Reich der Fantasien und der Erinnerungen. Die Sehnsucht nach dem Gestern ist ja oft die größte.
Es ist eine Sehnsucht nach dem guten, alten, einfachen Leben. Nach bodenständigen Leuten und Gerichten, die uns erden. Kein Schnickschnack.
Das Bauerndorf seiner Großmutter, das merkt Maurer unterwegs, ist ihm noch immer näher, als er dachte. »Auch näher an Mailand als an Hamburg, der Stadt, in der ich derzeit wohne.«
Talent zur großen Geste
In diesem Hamburg schreibt Maurer sein Buch nun fort. Weil zurzeit nicht nur Italienreisen fast unmöglich sind, sondern auch Lesereisen und Buchpremieren, von Auftritten auf der abgesagten Leipziger Buchmesse ganz zu schweigen, haben Maurer und sein Verlag sich überlegt, das Budget, das dafür mal vorgesehen war, in ein Museum der Sehnsucht zu stecken.
In den Räumen einer coronabedingt verwaisten Boutique, die Maurer am Lehmweg im Hamburger Stadtteil Hoheluft angemietet hat, richtet er einen Pop-up-Store ein, in dem nur ein einziges Buch verkauft wird: sein eigenes. Vor allem aber macht er das Buch in dem Laden begehbar.
Zu sehen sind die Bilder des Fotografen Daniel Etter, der Maurer bei seiner Reise begleitet hat, ferner Erinnerungsstücke an die Menschen, die die beiden unterwegs getroffen haben: eine Wäscheleine aus Neapel; ein Nudelholz aus Ligurien; das Transistorradio, mit dem ein Olivenbauer in Kalabrien die Wildschweine verscheucht.
»Little Italy in Hamburg«, nennt Maurer das – und beweist damit, dass er mit einem geradezu italienischen Talent zur großen Geste gesegnet ist. »In einer Zeit, in der es Kultur schwer hat, wollen wir kulturelles Gegengift verabreichen.« Auf Instagram soll es unter @marcoeamici eine Talkreihe mit prominenten Gästen geben: die Theologie-Professorin Johanna Haberer, die Backbuchautorin Melissa Forti, der Musiker Francesco Wilking von der »Crucchi Gang«.
Anzeige
Titel: Meine italienische Reise: oder wie ich mir in Sizilien einen uralten Cinquecento kaufte und einfach nach Hause fuhr
Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier
Maurers One-Book-Store liegt nur wenige Schritte neben der »Trattoria Mama«, einem Systemgastro-Schuppen, in dem früher mal das Onkel Pö zu Hause war, ein legendärer Klub. Aber das ist eine andere Geschichte, voller Sehnsucht und Nostalgie auch sie.
Maurer schafft einen Ort, der die Sehnsucht abbildet – und im Idealfall ein wenig stillt. Das Ziel: Italia to go.
0 Response to "Neues Buch über Reisesehnsucht: Der Tacho endet bei 110 - DER SPIEGEL"
Post a Comment